KUNSTzeit  HEFT 1 / 2001

                                                                    

Viorel Chirea

Irritierende Begegnung auf der Leinwand

von Jutta Göricke

Aus den 30-er Jahren ist folgender Dialog zwischen Andre’ Masson und Henri Matisse überliefert:

Masson sagte: "Ich fange ohne (...) Plan (...) an und zeichne oder male nur schnell nach meinen Impulsen. Nach und nach sehe ich in den Spu­ren, die ich hinterlasse, Andeutungen von Figuren oder Gegenständen, ich ermutige sie, stärker hervorzutreten, will ihre Implikationen heraus­arbeiten, genau wie ich jetzt bewusst versuche, die Komposition zu ordnen."  
„Das ist kurios", antwortete Matisse, „bei mir ist es genau umgekehrt. Ich fange immer mit irgend etwas an - einem Stuhl, einem Tisch - aber während das Werk fortschreitet, werde ich mir dessen immer weniger bewusst. Am Ende nehme ich das, womit ich eigentlich angefangen habe, kaum noch wahr."

Masson und Matisse beschreiben hier exemplarisch die Arbeitsweisen der zwei großen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts, deren Exponenten sie sind. Die der surrealistischen ecriture automatique, die sich des Unbewussten als Reservoir bedient, ihren Bildgegenstand im Entstehen erfindet und schließlich zu den "Stimmungszeichen" der Abstrakten Expressionisten und des Informel führt. Und die Arbeitsmethode der abstrakten Malerei, die von einem objektiven, äußeren Gegenüber ausgehend, Abbilder schafft, wobei die mangelnde ähnlichkeit dieser Abbilder mit ihren Vorbildern darauf beruht, dass nicht mehr das Postulat der Mimesis gilt, sondern die "Totalität der Wahrnehmung", wie beispielsweise Paul Klee formuliert hat.
Arbeitsmethoden, die - das wollen Masson und Matisse wohl zum Ausdruck bringen - trotz völlig unterschiedlicher Herkunft zu erstaunlich ähnlichen Ergebnissen führen.

Der rumänische Maler Viorel Chirea präsentiert dem Betrachter am Ende des Jahrhunderts seine Bilder, die mit dem Antagonismus von ecriture automatique und abstrakter Malerei spielen. Thematisch lassen sich die Gemälde, die fast alle aus den Jahren 1999/01 stammen, in drei Werkgruppen fassen.
In der ersten Gruppe sind Variationen eines männlichen Aktes versammelt. Das Abbild des Körpers in Acryl oder öl, oft eine Rückenansicht, ist das Ausgangsmaterial immer weiter fortschreitender Abstraktion. Das Ergebnis wird konfrontiert mit Farbinseln amorpher Strukturmalerei, die das Figürliche absorbieren. Erst auf den zweiten Blick lässt sich der Körper ausmachen, der, einmal als solcher identifiziert, die Bildsituation definiert. Jetzt erkennt der Betrachter den Standpunkt der Figur im Raum, interpretiert beispielsweise in „Reflexe" aus dem Jahr 1999 die noch stärker reduzierte figürliche Form am rechten Bildrand als Spiegelbild des Aktes. Genauer gesagt als Zerr-Spiegelung. Denn Chirea reizt sein Kontrastprogramm bis ins Detail aus: Während der Akt in warmen Farben gehalten ist, ist sein Spiegelbild kalt.

Doch nicht nur das Gegensatzpaar abstrakt/amorph und die Farbkontraste, deren Einsatz für Chirea auf der Auseinandersetzung mit der Farbtheorie von Josef Albers basiert, spielen eine Rolle. Zu seinen Materialien gehören vor allem Gedankenzeichnungen aus feinen Linien, die auf die Materialität von Farbflächen treffen. So stören aleatorische Bildelemente die konstruktiven, amorphe werden durch geometrische diszipliniert.

Der Konfrontationskurs führt programmatisch dazu, dass es ständig zu irritierenden Begegnungen auf der Bildfläche kommt. Von Elementen, die oft widersprüchlich sind, sich gegenseitig in Frage stellen oder sich in ihrer Bedeutung verstärken und dadurch das Bedeutungspotential des Bildes vergrößern.

Maßzahlen, Koordinaten, geometrische Strecken stehen für Exaktheit und konterkarieren pastose Farbflächen oder Skripturen, die nicht nur Ausdruck spontaner Selbstnotiz sind, sondern auf Schriftkultur per se anspielen. Dabei sei angemerkt, dass Chirea nicht etwa unleserlich schreibt und zur Entzifferung von Wörtern oder Sätzen aufruft. Seine Skripturen haben keine Bedeutung außer der, graphische Elemente zu repräsentieren. Zitate aus der Kunstgeschichte sollen an das kulturelle Gedächtnis des Betrachters appellieren und so den Horizont über die Bildebene hinaus erweitern: zum Beispiel die Anleihen an die fragilen Raumkonstruktionen von Francis Bacon, die Figurinen von Oskar Schlemmer oder die Spiegelschrift und kleinen Konstruktionszeichnungen aus Leonardos Codices.

Abklatschverfahren erzeugen hyperrealistische Bildstrukturen die im Bildkontext wie ein trompe d'oeil wirken und damit einen Höhepunkt mimetischer Tradition zitieren - und stehen doch zugleich für ihre automatistische Herkunft.
Gefundenes wie Zeitungsschnipsel transportiert seine eigene Geschichte mit.

Darüber hinaus verweisen palimpsestartige übermalungen auf vergangene Bildzustände und damit per se auf die Themen Zeit und Geschichte.
Man sieht, Viorel Chireas kombinatorisches Spiel öffnet den Bildraum für immer neuartige Varianten.
Besonders deutlich wird die geschickte Disposition der Elemente, versucht man die Bilder um 180 Grad gedreht zu lesen. Dann wird aus einem stehenden Akt eine Cezanneartige Landschaft, Konstruktionslinien, die einen Innenraum definierten, werden zu weiten Horizonten, zu Grenzen zwischen Gesteinsschichten von Felsformationen oder zu Industriearchitekturen.

Die männlichen Akte sind nun kaum noch von den Bildern der zweiten Werkgruppe zu unterscheiden, in denen Viorel Chirea auf den Körper als Referenz verzichtet und nur noch abstrakte Elemente verarbeitet. Wieder entstehen, je nach Lesart, Innenräume, Landschaften oder auch Stilleben. Die Allansichtigkeit der Bilder erklärt im übrigen auch, warum Viorel Chirea das quadratische Format bevorzugt.

Sakralmystische Assoziationen evozieren die Bilder der dritten Werkgruppe, in denen Chirea mit Kupferblatt und in einer warmerdigen Far­bigkeit arbeitet. Dabei ist ihm wichtig, dass auch diese Bilder nichts anderes. als Ergebnisse seiner kombinatorischen Arbeitsweise sind, daher den anderen gleichwertig und nicht etwa metaphy­sisch aufzufassen sind, als Fortsetzung osteu­ropäischer Ikonenmalerei.

Viorel Chirea behandelt seine Bildmaterialien vielmehr semiotisch: Jeder Pinselstrich, jeder Buchstabe, jede Linie repräsentiert als Zeichen sich selbst oder eine kulturelle Erinnerung. Im Extremfall: Das x, das als Platzhalter für einen Platzhalter steht.
Die Kombination verschiedener Elemente erzeugt eine Bildrealität, die sich allerdings - je nach Sichtweise - jederzeit in eine andere Realität verwandeln kann. Damit zeigt sich:
Der Status quo eines Bildes von Viorel Chirea ist eine Bewegung, ist das Vexieren zwischen Erkennen und Erkennen. Dabei ist keine Bildrealität realer als die andere. Ein Bild ist immer nur Abbild eines anderen Abbildes. Weder Betrachter noch Maler können aus der platonischen Höhle entkommen.

Viorel Chirea situiert sich mit seinen Bildern dezidiert als Vertreter einer l'art pour l'art. Er zeigt, dass Kunst sich immer nur selbst repräsentieren kann, und macht Kunst über Kunst.

Dr. Jutta Göricke ist Chefredakteurin des Aachener Stadtmagazins Klenkes und der Zeitschrift "artefACt - Kunst im Westen". Die Autorin hat zahlreiche kunsthistorische und kunstwissenschaftliche Aufsätze publiziert. 1995 ist ihr Buch "Cy Twombly - Spurensuche" im Silke Schreiber Verlag, München, erschienen. Sie ist Mitherausgeberin des Titels "Erkenntnis. Erfindung. Konstruktion" , der Ende 2000 im Gebr. Mann Verlag, Berlin, herausgekommen ist.